Kulturell bedingte Schranken
Veröffentlicht am September 10th, 2012 | von Redaktion Berlin
0Ein Gastkommentar von Roman Ummerlée (chandartha)
Kulturelle und soziale Gruppen bilden eine „konnektive“ Struktur, welche den Menschen an den Mitmenschen und somit die Gruppe bindet. Indem eine „symbolische Sinnwelt“ erschaffen wird, in der Erfahrungs- und Erwartungswerte als verbindliche Kraft wirken, wird innerhalb der Gruppe Vertrauen und Orientierung gestiftet. Gleichsam wird dabei das Gestern an das Heute geknüpft indem die Bilder und Geschichten vergangener Zeiten, also die selbsterschaffene Tradition, innerhalb des Tradierungsprozesses zeitlos gegenwärtig gehalten wird. Somit werden durch Anweisung und Erzählung die Zugehörigkeit des Menschen zur Gruppe gewährleistet, in der nun der Einzelne “wir” sagen kann. Es entsteht also ein gemeinsames Wissens- und Selbstbildnis, welches sich auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte und die Erinnerung an eine gemeinsam propagierte Vergangenheit stützt.
Das individuelle Gedächtnis einer Person wird dabei durch die Teilnahme an den kommunikativen Prozessen der Gesellschaft aufbaut. Vergangenheit entsteht nicht von selbst, sondern ist das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion und Repräsentation; sie wird immer von spezifischen Motiven, Erwartungen, Hoffnungen, Zielen geleitet und von den Bezugsrahmen der Gegenwart geformt.
(Maurice Halbwachs)
Durch diese Selbstbild einer sozialen bzw. kulturellen Gruppe wird die Differenz nach außen hin betont und die nach innen dagegen heruntergespielt. Derartige Gruppen jedoch streben nach Dauerhaftigkeit und tendiert dazu, Wandlungen möglichst auszublenden und die Geschichte als veränderungslos wahrzunehmen. Religion wird somit eine Art institutionalisierte Erinnerung und ist darauf aus, die Erinnerung an eine längst vergangene Zeit unberührt und ohne jede Beimischung späterer Erinnerungen oder Erfahrungen durch die Zeit zu erhalten.
Dabei gehen Gruppe und Raum eine symbolische Wesensgemeinschaft ein, an der auch festhalten wird, wenn Gruppe und Raum sich voneinander trennen, indem die heiligen Stätten symbolisch reproduziert werden, z.B. durch die Kanonisierung in Form einer „Heiligen Schrift“, welche unabhängig vom geografischen Raum die Tradierung auch weiterhin gewährleistet.
Im Bezug auf einen “Kanon”, indem der Text als unabänderbar gilt, ist aber die Welt der Menschen dennoch in fortwährendem Wandel und es besteht eine Distanz zwischen fixiertem Text (Kanon) und wandelbarer Wirklichkeit, die nur durch nachfolgende Interpretation zu überbrücken ist. Durch den unvermeidlichen Wandel gesellschaftlichen Lebens, gerät die eingebettete Erinnerung in Vergessenheit und die Texte verlieren ihre (Selbst-)Verständlichkeit und werden somit auslegungsbedürftig. Somit entstehen im Umkreis kanonisierter Schriften Institutionen, deren Aufgabe die jeweils gegenwärtige Auslegung des alten Textes beinhaltet. Die Ausführenden dieser Institutionen nennen sich Rabbi, Mullah, Brahmane und anders, es ist also der Klerus, der nun die Auslegung der nicht mehr gegenwartsbezogenen Texte übernimmt, wodurch eine „kontrapräsentische“ Spannung erzeugt wird.
Nun erst (3./4. Jahrhundert u.Z.) “zieht die religiöse (christliche) Gesellschaft sich auf sich selbst zurück, fixierte ihre Traditionen, legt ihre Lehre fest und erlegte den Laien eine Klerikerhierarchie auf, die nicht mehr einfach aus den Funktionären und Verwaltern der christlichen Gemeinde besteht, sondern eine geschlossene, von der Welt abgesonderte und gänzlich der Vergangenheit zugewandte Gruppe bildet, die einzig und allein damit befaßt ist, das Gedächtnis der Vergangenheit zu bewahren.” (M. Halbwachs)
Quelle:
“Das kulturelle Gedächtnis” von Jan Assmann