‘Katholische Kinder’, ‘christlich-jüdische Werte’ und das ‘goldene Zeitalter des Islam’
Veröffentlicht am September 8th, 2012 | von Redaktion Berlin
8.9.2012, Gastkommentar. (Manuel Störmer) Es fällt uns ja oftmals gar nicht auf, wie sehr Religionen Identitäten bestimmen. Selbst für vergleichsweise säkulare Gesellschaften wie die Deutschlands und Nordeuropas spielen diese Identitätsfragen noch immer eine große Rolle.
Religionen gelten neben Sprache, Kultur und Hautfarbe/“Rasse“ in Gesellschaftswissenschaften als eine von mehreren historisch bedeutenden Identifikationsfaktoren von Nationalitäten und Ethnien.
Wer die Memtheorie zur Basis nimmt, versteht auch schnell, warum: Religionen wollen ihre kulturellen Meme verbreiten, ihre Anhängerschaft vergrößern. Doch da dies anders als bei wissenschaftlich bewiesenen Theorien nicht über Argumentation und Beweise geschehen kann, geschieht dies durch anderweitige, unfaire Strategien. Eine davon ist die religiöse Identitätsbildung.
Religionen und damit deren Gläubige trennen sich jeweils stark voneinander ab, nicht nur durch unüberbrückbare ideologische/theologische Differenzen, sondern auch durch Rituale und ein soziales Umfeld. Je fundamentalistischer die Religion, desto stärker versucht sie auch, die Identität des Einzelnen zu vereinnahmen, also auch deren soziales Umfeld. Man versucht, Heiraten nur unter sich zu gestalten, nur mit Gläubigen Freundschaften zu schließen, auf Schulen einer bestimmten Konfession zu gehen, etc. Die stärksten Ausformungen dieser Grundstrategie schreibt man für gewöhnlich Sekten zu, doch sind diese Grundmechanismen bei jeder Religion gleich: das Leben des Einzelnen möglichst stark an eine religiöse Identität zu binden. Das Resultat ist ein emotionales, irrationales Klammern an diese Identität und die Gruppe, die wiederum dafür sorgt, dass Kritik daran sehr persönlich aufgefasst wird. Wer also den Propheten beleidigt, beleidigt auch mich, überhaupt alle Muslime. Und wer die frühkindliche Verstümmelung des Penis‘ („Beschneidung“) hinterfragt, hat wiederum nur etwas gegen Juden/Muslime. Eine ähnlich irrationale Argumentation wie die in der Beschneidungsdebatte, gibt es meist nur, wenn es um Religion und Identität geht. Wer aber bedenkt, wie künstlich und mühsam aufgebaut diese Identitätsbildung doch eigentlich ist, muss sich fragen: Brauchen wir das überhaupt?
Letzten Endes muss man auch erkennen, dass religiöse Identität traditionell ein besonders erbitterter Grund für Konflikte gewesen ist. So gut wie jeder Genozid und jede ethnische Säuberung der Geschichte wurden an Menschen einer anderen Religionsgruppe vorgenommen, die besonders aggressiven Konflikte der Gegenwart sehen ihre Konfliktfront vor allem in der Religion. Wer nur einmal einen Weltatlas der Religionen aufschlägt und die lokalen Konfessionsgrenzen mit der Häufigkeit von ethnischen Konflikten abgleicht, sieht eine erstaunlich hohe Korrelation, die es so niemals in Sprache, Hautfarbe oder Kultur gegeben hätte. Ein gutes Beispiel ist der Balkan: traditionell ein Pulverfass und gleichzeitig Schauplatz vieler Konfessionsgrenzen. Während Kroatien sich in seiner staatlichen Identität als katholisch, Serbien als orthodox und Bosnien als muslimisch definiert hat, gab es vor allem dort viele Konflikte. Ein anderer Schauplatz ist der nahe Osten, der ebenfalls stark unter religiöser Identifikation litt und leidet. Bürgerkriege anhand religiöser Linien im Libanon und Syrien und Genozide an christlichen Armeniern und Assyrern sowie Vertreibung von Griechen sprechen ebenfalls für sich. Die religiöse Identifikation ist also nicht nur historisch üblich, sondern auch potentiell sehr gefährlich. In Staaten, in denen die religiöse Identifikation dagegen sehr niedrig ist und kaum jemand sich noch als Protestant oder Katholik definiert und Ehen zwischen Konfessionen Normalität ist, gibt es kaum Konflikte. Vor 380 Jahren starben Europäer im Glauben, für die wahre Religion und für seine jeweilige Seite zu kämpfen, heute jedoch hat der Glaube des anderen kaum noch eine Bedeutung. Bis jetzt.
Mit dem Auftreten von andersartigen Religionen durch Gastarbeiter und Migranten verändert sich diese Dynamik. Viele Einwanderer wollen sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzen und finden diesen Identifikationsfaktor in der Religion. Genauso wollen viele Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sich ihrerseits von den „Fremden“ abgrenzen, und dies passiert ebenfalls anhand des Merkmals der fremd erscheinenden Religion. Man hat es geschafft, jede Debatte um Integration letztlich um die Frage des Islams kreisen zu lassen, die Akzeptanz von augenscheinlich „Fremden“ scheint für viele gleichbedeutend mit der Akzeptanz oder zumindest Toleranz des Islam zu sein. Beide Entwicklungen sind besorgniserregend, denn beide führen zu einer stärkeren Identifikation von Gläubigen mit der Religion, besonders der muslimischen Minderheit, und den damit verbundenen Konflikten und Differenzen innerhalb der Gesellschaft.
Und doch ist die europäische Gesellschaft noch nicht säkular genug, um diesem Trend wirkungsvoll entgegenzusteuern. Noch immer gibt es eine starke „Verbandelung“ von Kirche und Staat und populistische Politiker beschwören ein „christliches Abendland“ bzw. „christlich-jüdische Werte“, die ohne Frage nie klar definiert worden sind. Genauso sehr werden alle Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern in einen Begriff der „islamischen Kultur“ oder der „muslimischen Welt“ gesteckt, obwohl dies nicht das Hauptidentifikationsmerkmal dieser Gesellschaften ist. Schlimmer noch: man wirft Islam und Muslime so dermaßen zusammen, dass das goldene arabische Zeitalter der Wissenschaften (etwa 1000 u.Z. bis 1400 u.Z.) oftmals das „goldene Zeitalter des Islam“ genannt wird. Und das, obwohl islamische Kleriker diesem erwiesenermaßen eher geschadet haben und bei weitem nicht alle Gelehrten jener Zeit Muslime waren.
Eine ähnliche „Reklamierung“ ist im Gange, wenn die von den Kirchen lange bekämpften Menschenrechte nun plötzlich aus dem christlichen Menschenbild erwachsen seien. Außerdem ist die Gesellschaft noch immer der Meinung, die Brandmarkung von Kindern anhand der Religion der Eltern und damit der erzwungenen Identifikation des Kindes mit der Religion sei akzeptabel. Noch immer sind Taufen, Beschneidungen und religiöse Indoktrinierung wie das Auswendiglernen von Koranversen von Kindern oder die Akzeptanz einer Darstellung von Bibel und Koran als „absolute Wahrheit“ Standard. Vielerorts wird von „christlichen Kindern“ und „muslimischen Kindern“ gesprochen, obwohl all diese wohl kaum alt genug für eine solche folgenschwere persönliche Entscheidung sind und wohl niemand im Gegenzug behaupten würde, es gäbe „christdemokratische Kinder“ oder „marxistische Kinder“ oder „nihilistische Kinder“. Auch heute noch gibt es obligatorischen Religionsunterricht für Kinder, in dem diese von den Kindern andersgläubiger Eltern getrennt werden und religiöse Behauptungen als Fakt dargestellt werden oder gar ganze konfessionelle Schulen. Die frühkindliche Identifikation behindert die Religionsfreiheit des Einzelnen, vor allem des Kindes, wandelt rationale Religionskritik zu einem Angriff auf die eigene Identität, und führt zu Isolation von religiösen Gruppen innerhalb von Gesellschaften und damit religiösen Konflikten.
Je stärker wir also die deutschen Staatsbürger irgendeines Glaubens, beispielsweise des muslimischen, in einen jeweiligen großen Sack der jeweiligen Religion stecken und je mehr Diskriminierung aufgrund dieses Merkmals geschieht, desto stärker wird die Identifikation mit dieser Religion wachsen, desto stärker spalten wir unsere Gesellschaft in Religionsgruppen, desto stärker gefährden wir das Zusammenleben. Die Folgen sieht man bereits: In der regelmäßigen Umfrage von Deutschtürken schlug sich nieder, dass die Identifikation mit der islamischen Religion und den damit verbundenen bigotten Vorstellungen gestiegen sind. Gleichsam steigt der Anteil der Europäer, die glauben, dass es zu viele Muslime in Europa gibt und Angst vor einer „Islamisierung“ haben.
Es spricht für sich, dass allein die Koexistenz von Religionen als progressive Forderung gilt, denn Religionen sind nicht kompromissbereit, sondern spalterisch. Die einzige Art und Weise, wie sie ihre Meme reproduzieren können, ist durch unfaire Taktiken, wie die aufgezwungene Weitergabe an nicht einwilligungsfähigen Kindern. Damit verhalten sie sich wie Viren, befallen die Schwachen und Ungebildeten. Und doch sehen wir sie gesellschaftlich nicht so.
Warum denn eigentlich nicht?