Beschneidungsdebatte: Wollen wir eine Lösung, oder nur eine Meinung?


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Veröffentlicht am Oktober 16th, 2012 | von Redaktion Berlin

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Ein Gastbeitrag von Christine Kaiser

Beschneidungsdebatte: Wollen wir eine Lösung, oder nur eine Meinung?

Der Zug

Man stelle sich vor, da fährt ein Zug in voller Fahrt unter Dampf. Trotz seiner altmodischen Technik doch so schnell, dass der Bremsweg fast 150 Meter beträgt, denn die Bremsen sind auch altmodisch. In ein paar Kilometern ist der Schienenweg zu Ende, es folgt eine kleine Schlucht.

Eigentlich sollte darüber eine Brücke führen. Die ist aber nicht da. Sie wurde nie gebaut, aber das weiß der Lokführer nicht, das wissen die Passagiere nicht.

Inzwischen hat ein aufgeregter Mann aus dem historischen Museum, woher der Zug stammt, festgestellt, dass die schon lange stillgelegte Schienenstrecke eben vor dieser Schlucht endet. Er ist ganz entsetzt und kann niemanden aus dem Zug erreichen, denn darin sitzen Leute in historisch korrekten Anzügen mit einem historisch korrekten Lokführer – eben ohne Handy! Der Historiker alarmiert alle Stellen, die man alarmieren kann und diese bilden einen Krisenstab. Der Zug ist nicht so einfach zu erreichen, der Streckabschnitt ist mitten in den Bergen, da kann kein Hubschrauber landen, kein Fahrzeug hingelangen, viel zu steile Wände links und rechts davon.

„Wir können nichts mehr tun, die armen Menschen. Wahrscheinlich werden sie nicht mal bemerken können, dass sie verunglücken.“ sagt der erste Mann in der Runde.

Hundert Meter vor der Schlucht gibt es eine kleine Stelle, die doch zugänglich ist. Der zweite Mann sagt: „Diese Möglichkeit nutzen wir, wir müssen eine vollbremsende Wand aufbauen, die hält alles an. Dann werden ein paar Menschen sterben, es wird ein Riesenchaos geben, aber wir retten dann doch ein paar. Und vor allem wird der Gascontainer der in der Schlucht steht, nicht zur Explosion gebracht. Das würde keiner überleben“ Es ist eine ernstzunehmende Option.

Da sagt der dritte: „Wir stellen keine Vollbremswand auf, sondern ein großes Warnschild aus Styropor, das der Zug durchstoßen soll. Darauf schreiben wir groß STOPP und das wird der Lokführer sowieso versuchen, wenn er die Wand plötzlich nach der Kurve sieht. Nach dem Durchbruch wird der Zug abgebremst werden, es wird aber nicht reichen. Mit Vollbremsung wird der Zug noch 120 Meter weiterfahren, also eigentlich bis zur Mitte der Schlucht, wenn da eine Brücke stünde. Und genau das ist es, wir bauen schnellstens eine provisorische Brücke auf. Eine halbe Brücke, eben nur bis zum Ende des Bremsweg, sie wird nicht lange halten, aber doch so lange, dass sie eine schnelle Evakuierung des Zuges erlaubt.“

Sie eilen hinaus, sie organisieren alles, tatsächlich wird in Windeseile die Styroporwand transportiert, mit Hubschraubern in die Schlucht die Materialien gebracht, die an wenigen Punkten so zusammen montiert werden, dass eine wacklige Brücke entsteht, die kaum über die Hälfte der Schlucht hinwegführt. Der Zug kommt an, der Lokführer ist zum Glück sehr aufmerksam und sofort nach der Kurve erblickt er den großen warnenden Schriftzug, zieht alle Bremsen an, die träge reagieren und bricht mit dem Zug durch die Styroporplatten. Die Passagiere werden durcheinandergewirbelt, sie sind erschrocken, sie blicken hinaus und sehen sich über der Schlucht hängen und genau darüber stehenbleiben. Über ihnen kreisen Hubschrauber, unter ihnen sind die zwei großen Gascontainer, bedrohlich und fast an sie heranragend. Die ersten Leitern hängen von den Hubschraubern, die ersten Menschen hangeln sich daran hoch, sofort verstehend, dass das ihre einzige Option ist.  Ein paar können sich noch nicht überwinden, erst nachdem sie sehen, dass den ersten Kletterern nichts passiert und schon der erste Hubschrauber mit vollem Kontingent Geretteter wegfliegt, werden sie auch aktiv und klettern auch. Dann gibt es diejenigen, die eine Menge Ballast abwerfen müssen, denen die historischen Kostüme beim Klettern hinderlich sind. Sie helfen sich gegenseitig aus den Kostümen, steigen auch auf die Leitern.

Inzwischen fängt die Brücke an zu wackeln, denn Wind hat eingesetzt und die Rotoren der Hubschrauber tun auch ihr Übriges. Immer noch gibt es ein paar, die sich nicht überwinden können, die mehr Höhenangst haben als den Überlebenswillen oder auch nicht die Erkenntnis, dass es keine andere Möglichkeit zu ihrer Rettung gibt. Der Wind wird stärker, die ersten Verbindungspunkte der Konstruktion fangen an nachzugeben. Die Rettungsmission muss abgebrochen werden. Der Wind ist zu stark geworden, die letzten Historiker ergeben sich ihrem Schicksal. Die Brücke stürzt ein, der Zug sackt ab. Die Gascontainer bersten unter dem Aufprall der schweren Teile, die heiße Lokomotive setzt das ausweichende Gas sofort in Brand. Es gibt keine Überlebenden unter den Abgestürzten.

Panik

Erkennt man die Analogie? Die Geschichte ist ein Gleichnis auf die Beschneidungsdebatte. Da sind ein paar Menschen, die der Tradition verbunden ihren Weg gehen, der aber nicht weiter gangbar ist, die Betroffenen wissen aber nicht, dass dieser Weg niemals eine Option sein kann. Ihre Reaktion auf die Erkenntnis ist unterschiedlich und sehr menschlich. Sie werden von der Situation überrascht und manche geraten in Panik, manche verweigern sich der Erkenntnis vollkommen. Und die draußen? Die Organisatoren der Hilfsaktion? Sie haben vernünftige Ratschläge, zweifellos, alle nachvollziehbar. Einige sind die Realisten, ihre Sicht der Dinge ist: Man versucht das Konventionelle, es besteht aus Information, aus der Notbremse von außen, es ist aber auch eine wohlfeile, günstige Lösung, man tut halt was man kann (Schulterzucken).

Andere reagieren so, als ob es sie nichts angehe, es nur Sache der Reisenden wäre, der Lauf der Dinge wird hingenommen. Wenige haben das Verständnis und die Einsicht zugleich, um sich für eine beste Lösung zu bemühen. Es geht um Gegebenheiten. Und geht auch um Menschen.

Die drei Faktoren

Bei jeder politischen Entscheidung gibt es drei Faktoren: der physikalische, der logische, der psycho-soziale (oder menschliche, aber das weckt die falschen Assoziationen). In unserem Fall, der Beschneidungsdebatte, ist die physikalische Komponente diejenige, die die medizinischen Aspekte betrifft. Sie ist eigentlich nicht vollständig klar, Mediziner sind nicht vollends einig, ob eine Beschneidung außer in extremen Situationen einen Nutzen bringt.

Jedoch sind Mediziner an bestimmte Prinzipien gebunden, die vorgeblich ethischer Natur sind, sich aber bei näherer Betrachtung durchaus als physikalisch oder physiologisch erweisen. Ein Prinzip besagt, niemandem zu schaden. Das ist vor allem in dem Bewusstsein entstanden, dass Therapie an sich einen Eingriff bedeutet, denn ein Arzt kann einem körperlichen Leiden nur mit einem körperlichen Eingriff beikommen, jedoch sollte dieser so minimal wie möglich sein und vor allem in sehr viel größerem Maßen nicht schaden, als dass er nutzt. Ein anderes Prinzip besagt, dass nach bestem Wissen behandelt wird. Somit, dass der besagte Eingriff nicht nach überholten oder gar solchen Methoden erfolgt, die vielleicht früher als nützlich, inzwischen aber als schädlich gelten. Schließlich wird heute nicht mehr bei jeder Gelegenheit zur Ader gelassen oder ständig und ohne zusätzlichen Schutz geröntgt. Diese Prinzipien sind der Natur geschuldet. Denn: eine größere Schnittwunde beim Operieren birgt ein größeres Risiko, sich zu infizieren, als eine kleine; ein möglichst gering dosiertes Medikament minimiert die Vergiftungserscheinungen oder andere Nebenwirkungen. Oder: man weiß inzwischen, dass Blutverlust in den meisten Fällen eher schädlich ist als nützlich und bei einem häufigen Ausgesetztsein gegen harte Strahlen die Zellen irreparable Schäden davontragen können.

Die Beschneidung ist ein blutiger Eingriff. Es bestehen die üblichen Risiken der Infektion und die üblichen Risiken des Mißgriffs. Dazu kommen starke Hinweise, dass es Spätfolgen gibt, wie etwa Einschränkungen bei der Sexualität und auch noch starke Zweifel daran, dass die gerne angeführten positiven Effekte bestehen, etwa der hygienische Aspekt und  niedrigeren HIV-Infektionsraten, wenn man bedenkt, dass es ja weiterhin ein Lotteriespiel ist. Ich schlafe doch nicht leichter mit einer HIV-Risikoperson, nur weil er beschnitten ist…

Der zweite Faktor ist der logische. Es gibt Prämissen, die feststehen, aus diesen folgen zwingend (oder beinahe so) Schlüsse. Dieses ist der juristisch-legislativen Aspekt. Es geht um den schon existierenden und bewährten Apparat, der sich “Verfassung” und “Gesetz” nennt. Da gelten Prinzipien, wie: Unversehrtheit und Religionsfreiheit. Der juristische oder legislative Apparat muss sich möglichst widerspruchsfrei erweisen, oder zumindest strenge Regeln besitzen, wie man mit Widersprüchen umgeht. Und aus diesem Apparat ergeben sich die oben erwähnten Schlüsse.

Ein Richter entschied, dass das Unversehrtheitsgebot eines Bürgers, zumal eines Kindes, über dem der freien Ausübung der Religion der Eltern (sic!) steht. Dazu kommt eine neue Prämisse in den Entscheidungsbaum der Juristen hinzu: die Medizin teilt mit, dass die Beschneidung in den wenigsten Fällen nützlich ist, dass sie, wenn sie nach rituellen Prinzipien statt nach medizinischen erfolgt, die Geschichte der Medizin mit ihren Errungenschaften ignoriert und dass es Hinweise gibt, dass sie sogar bei bestem Verlauf eine Einschränkung der Physiologie zur Folge hat. Somit gibt es nach diesem Gedankengang ein Bruch des Rechts auf Unversehrtheit.

Die Legislative hat es scheinbar einfacher, denn statt sich diesem juristischen Zwang der Schlussfolgerung aus gegebenen Prämissen zu ergeben, schafft sie selber Prämissen, die Gesetze. Jedoch: da muss auf weitestgehende Widerspruchsfreihet mit dem schon existierenden Gesetzes-Apparat geachtet werden. Und es gibt auch hier Prinzipien, etwa der Gleichheit, so dass man nicht ständig Ausnahmeregelungen für einzelne Gruppen erzeugt.

Dieser Aspekt des Logischen ist den meisten einsichtig. Hier wird in der Beschneidungsdebatte ein Dilemma sichtbar. Und dieses Dilemma, diese zwei sich widersprechenden Prinzipien oder Prämissen werden zunehmend von polarisierten Gruppen besetzt, statt in ihrer Dialektik und ihrem inneren Widerspruch bei jedem einzelnen anzukommen.

Identität an sich wird zur Identität

Es gibt eine dritte Komponente: der sozio-psychologische Aspekt. Es geht um „jüdisches Leben in Deutschland“ wird gesagt. Es ist nicht ganz richtig, jedoch mit einer meta-analytischen Betrachtung zeigt es den Kern der Sache. Zur Erläuterung, warum hier speziell die jüdische Gruppe besprochen wird und nicht die muslimische: Die meisten Moslems haben einen gleitenden Zeitpunkt zur Beschneidung in der Tradition, salopp gesagt: sie können warten, bis dass die Wogen sich geglättet haben, oder bis dass die Jungs 14 Jahre alt sind und auch vor dem Gesetz religionsmündig werden. In meiner Analogie wären es Wanderer, die sich der Schlucht auch nähern, jedoch können sie jederzeit stoppen, sich beraten und sich abseilen.

Die Juden haben diese Option nicht. Es ist eine Tradition, die einen bestimmten Zeitpunkt festlegt, den 8. Tag nach der Geburt, diese Besonderheit erlaubt keine allzu große Flexibilität oder Zeit zu warten, bis dass Politik oder Recht(sprechung) das Dilemma gelöst haben. Sie wurden davon eiskalt erwischt. Die meisten haben bislang nicht einen Hauch von Ahnung gehabt, dass hier andere Aspekte – etwa der medizinische – so eine große Rolle spielen könnten. Panik ist hier die normale Reaktion! Und dafür haben viele nicht Verständnis? Man bedenke:

Juden haben eine Geschichte, die ihnen die Identität mit ihrer Ethnie so schwer wie möglich macht, sie wurden ALS Juden verfolgt, getötet, vertrieben, es ist so weit gekommen, dass die Diaspora als Heimat gesehen wurde. Juden gibt es nach Jahrtausenden von Diaspora und Verfemtheit immer noch und die allermeisten identifizieren sich mit dieser so schweren Bürde der Gruppenzugehörigkeit. Identität an sich wird zur Identität. Und ein guter Teil dieser Zugehörigkeit wird durch Rituale zelebriert. Und selbst völlig säkulare Juden haben als letztes Ritual die Beschneidung am 8. Tag. Sozusagen die Essenz der Identität.

Man möge das richtig verstehen. Physikalische und logische Gegebenheiten sind sehr stark. Sie sind unüberwindlich. Die Medizin und das Gesetz sagen Nein zur Beschneidung. Das Nein ist nicht verhandelbar. Jedoch wie kann man Menschen so gegen die Wand fahren lassen? Die jüdischen Eltern, die ihre Kinder beschneiden ließen, die Rabbis die das vornahmen, sie taten es nicht WIDER besserem Wissen. Sie taten es IM besten Wissen. Viele von ihnen – ich bin überzeugt: die MEISTEN von ihnen – haben nie Gründe gehabt, die Risiken höher zu bewerten als den Nutzen: dass man Teil einer Gemeinschaft wird, zumal diese Gemeinschaft (der Juden) über Jahrtausende hinweg identitätsstiftend für jedes seiner Individuen war.

Es ist eine völlig normale Reaktion, dass Individuen, die nur wenig miteinander teilen, sich auch irrational verbünden und zusätzliche Verbindungen herstellen, wenn man sie eben als Gruppe angreift. Etwa wenn aufgeklärte Juden ohne große religiöse Bindung sich in diesem Punkt mit orthodoxen Juden einig sind. Es ist auch eine völlig normale Reaktion, dass in dem Augenblick, wenn eine lange als völlig selbstverständliche Wahrheit widerlegt wird und man deswegen sofort schwierige Konsequenzen verlangt, lieber die frühere Wahrheit verteidigt wird, als die Widerlegung zu akzeptieren. Jedoch wird die neue Wahrheit einfacher angenommen, wenn man es bei der Widerlegung alleine belässt und das Subjekt die eigenen Schlussfolgerungen ziehen lässt.

Juden sind in ihrer jüdischen Identität nicht alle gleich, diese machen sie auch nicht an den gleichen Dingen fest. Juden sind außerdem auch noch Individuen, mit eigenen Ansichten und anderen Meinungsgruppierungen, die nichts mit ihrer ethnischen Zugehörigkeit (oder religiöser) zu tun haben. Einige von ihnen werden nur wenig brauchen, um den medizinischen Aspekt des Problems anzuerkennen, andere werden den logischen Aspekt so in den Vordergrund stellen, dass sie gerne den gesellschaftlichen Diskurs aufnehmen, man muss sie aber auch dazu einladen und nicht von vorneherein als das ANDERE festlegen. Dass es einige geben wird, die niemals logische und physikalische Aspekte anerkennen werden, wenn sie ihrem innersoziologischen Mechanismus (der Religion etwa) widersprechen, davon können wir ausgehen.

Aber wir können es uns nicht leisten, auch die anderen Teile der Gruppe vollständig zu verlieren, die bereit sind, ihre psycho-soziale Position zu überdenken, weil sie den anderen beiden Aspekten widerspricht, man muss ihnen nur die Zeit lassen und die Autonomie.

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Christine Kaiser (Jahrgang 1973) ist interessiert in Religion und ihre Mechanismen sowie dem Umgang mit ihr.

 

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