Atheismus ist die Wahnvorstellung des Kosmos als Labor
Veröffentlicht am Mai 13th, 2013 | von Humanist News
13.5.2013, Gastartikel (Georg Blaha) Der Atheismus muss sich denselben Fragen stellen wie die Religion. Dabei erscheint er wie eine einblättrige Schere, die ihre Sache ohne Gegenspieler nicht zu fassen bekommt. Glaubt er, er könne alle Antworten bieten, ist Atheismus ein Glaube. Glaubt er, es wäre niemals möglich alle Fragen zu erkunden, argumentiert Atheismus in religiöser Weise. Die Sackgasse ist eröffnet!
Eine sympathisierende Replique auf Volker Dittmars Beitrag “Die atheistische Mission” von Georg Blaha
Mythen: Teilhabe des Geistes an der Welt
Die Salzfrau Pareni verwandelt unnütze Ehemänner in die Tiere des Waldes. Auf ihrer Wanderung, die sie gemeinsam mit ihrer Tochter unternimmt, gelangt sie an einen Berg. Dort stellt sie sich dem Entscheidungskampf mit ihrem Bruder, in dem sie sowohl Tochter als auch Mann verliert.
Das ist ein knapp gefasster Mythos der Yanesha, ein amazonisches Volk. Die Erzählung umfasst in ihrer vollständigen Version: Umgang der Geschlechter miteinander, wichtige Landmarken in der weiteren Umgebung und ganz wichtig die Salz- und Wasservorkommen. Warum hat ein Volk, das seine Traditionen mündlich überliefert, nicht einfach die Schrift erfunden, Bücher gedruckt, Tabellen und Statistiken zur Informationsweitergabe entworfen? Sie hatten einfach keinen triftigen Grund dafür. Alle Informationen, die sie zum Überleben brauchten, konnten sie ausreichend über Erzählungen verbreiten. Außerdem werden Gedanken recht schwerfällig, wenn sie einmal Buchform angenommen haben. Erzählungen dagegen weichen von Dorf zu Dorf, von Jahr zu Jahr ein wenig ab. Ihr Wahrheitsanspruch liegt auf einer anderen Ebene.
Noch zwei Mythen. Python ist der sehr anhängliche Sohn Gaias, der Erde. Er kriecht als Schlange über ihren Körper. Droht Gefahr, richtet er sich zur Verteidigung auf. Die Bedeutungen dahinter sind unschwer zu verstehen.
Huitzilopochtli, das höchst unaussprechliche höchste Wesen der Azteken, wird von seinen 400 Geschwistern schon vor seiner Geburt gehasst. Sie schwören, ihn und seine Mutter zu töten, sollte er geboren werden. Das erzählt er ihr noch während der Schwangerschaft. Tatsächlich kommt er in voller Rüstung mit einem Schlangenschwert in der Hand zur Welt und vernichtet alle Konkurrenten.
Abgesehen von der offensichtlichen Phallusparallele zwischen der griechischen und aztekischen Geschichte, kommt es uns nicht auch bekannt vor, dass jemand auf die Welt kommt, eine neue Ordnung errichtet und sämtliche Konkurrenten umbringt? So wie in der Geschichte als Moses mit den Gesetzestafeln vom Berg Sinai kommt und gleich alle Skeptiker über die Klinge springen lässt?
Wann haben wir es mit Religionen zu tun? Üblicherweise haben wir Kulte vor Augen, die sich aus den alten Kulturen im berühmten Fruchtbaren Halbmond zwischen Zweistromland und Nildelta entwickelt haben. Diesen Kulturen verdanken wir neben Ackerbau und Viehzucht auch die ersten groß angelegten urbanen Projekte. Es reichte nicht, sein Handwerk zu beherrschen, die Kooperation der Spezialisten nahm an Bedeutung zu. Damit entstanden Handelswege. Für diese war die Orientierung am Sternenhimmel ebenso entscheidend wie das Wissen um Wanderrouten von Beutetieren für steinzeitliche Jäger. Es ging ums Überleben. Ist es wirklich überraschend, dass das christliche Zeichen Chi Ro (das in ein X eingeschriebene P) starke Ähnlichkeiten mit Vorformen des Kompasses aufweist? Einem einfachen Ring, der mit ein wenig astronomischem Basiswissen erlaubte, sich auf langen Wanderungen zu orientieren. Die Strahlen des X stellten die Säulen des Himmels in 90° Abstand dar, der Mittelstrich zeigte auf einen Stern oder Planeten wie die Venus. Bemerkenswert, dass wieder eine astronomische Zeiteinheit von etwas über 1200 Jahren vergangen war, als der Jungfrau ein Kind geboren wurde – oder das Sternzeichen der Fische gegenüber der Virgo stand.
In den berühmten Höhlenmalereien von Lascaux sehen wir einerseits eine zoologische Sammlung – bei näherer Betrachtung einen groben Kalender, der uns mitteilt, welche Tiere zu welcher Zeit in der Gegend sind. Dabei blieb es zunächst bei einer jahreszeitlichen Einteilung, die den Winter auslässt; immerhin befinden wir uns in der Eiszeit.
Warum diese Illustrationen? Haben wir es mit Religionen zu tun? Narratives Wissen wird zur kosmologischen, ethischen und sozialen Orientierung in Kult und Ritus vermittelt. Also ja? Aber nein! Wissen, das für das tägliche Überleben wichtig ist, wird auf den jeweils besten Wegen der Informationsweitergabe übertragen. Also ist das mehr oder weniger wissenschaftliches Denken? Warum denn nicht? Warum sonst der unglaubliche Aufwand der Höhlenmalerei? Warum sonst die Berechnung von Jahrtausenden astronomischer Umläufe ohne mathematische Hilfsmittel? Dieses Verständnis von Welt verhilft dazu, Nahrung zu beschaffen, seine Familie zu erhalten und zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Welche Dreistigkeit, dass diese Funde sofort als Tempel oder Kultstätten bezeichnet wurden! Das beschränkt sie auf das Monokel des Religiösen.
Von der Urwissenschaft zur Höhle der Moderne
Hier eine thesenartige Aussage: Der Mensch war in seiner ganzen Geschichte davon abhängig, seine Umwelt so präzise wie nur immer möglich zu interpretieren. In Ermangelung von Wundern mussten wir wohl auf eigenen Beinen stehen und mit drehbaren Daumen die Welt bearbeiten.
Natürlich unterscheidet sich die Welt der Lascaux-Menschen von jener mesapotamischer Priester oder der Benediktiner. Die Fragen waren andere geworden. Nicht mehr die umgebende Natur barg Gefahren, die Nachbarschaft war zum möglichen Feind geworden. Nicht nur der Kosmos, auch der politische Raum wollte geregelt sein. Am besten nehmen wir dafür doch gleich dieselben Regeln? Nicht als Anmaßung, sondern weil nicht viel mehr über die Welt zu sagen war, als dass Überflutung und Trockenheit einander abwechselten. Es war zwar entscheidend, wann mit Aussaat und Ernte begonnen werden konnte, doch ließ es sich über Analogieschlüsse auch nutzen, wenn Feldzüge zu organisieren waren (noch Kepler erstellte Horoskope für Fürsten). Die Analogien reichten völlig aus, um die Welt zu erklären. War es denn wichtig, dass, wie Aristoteles fälschlich in seiner Naturgeschichte beobachtete, Fliegen nicht aus verdorbenem Fisch entstanden? Experimente kannte Aristoteles nicht und außerdem war seine Welt keine der Termine und Fristen. Und doch gilt er als Begründer des wissenschaftlichen Denkens.
Wenn wir unsere Begriffe auf das reduzieren, was wir von vornherein als richtig betrachten, können wir gleich die Bibel zur Hand nehmen und nachbeten. Ebensogut das ABC oder das kleine 1×1 aufsagen, um uns für wissenschaftlich gebildet zu halten. Für mich ist es ein lohnendes Unterfangen herauszufinden, welche Bedeutungen Erzählungen unterschiedlicher Kulturen und Epochen umfassend verbinden. Darauf bauen wir unser Wissen und unsere Welt auf. Ist das nicht mehr relevant, was die alten Sumerer gefunden haben? Abgesehen von den Grundregeln der Mathematik und Astronomie, den heute noch verwendeten Sternbildern, Vorformen der Buchhaltung. Überall auf der Welt finden wir gleichartige Gebrauchs- und Kunstgegenstände wie Messer, Ringe, Statuen, Bilder. Diese sind entweder Zierde oder bergen, wie der oben genannte Kompassring, wichtige Funktionen und Bedeutungen. Oft fällt das in Eins, oft lässt es sich nicht klar sagen.
Eine weitere Gefahr sehe ich heraufdräuen in begrifflicher Einengung. Wir beschränken uns auf die Gegnerschaft zur Institution Religion mit ihren Vertretern und Vertreterinnen, Apologien und Aporien, Täuschungen und Geheimniskrämerei. Das geht ja doch hin, oder nicht? Wir verlieren damit, deshalb kann ich dieses passive Limit des Erkenntnishorizontes nicht akzeptieren, den gewaltigen Schatz menschlicher Geistesgeschichte, der aus Erkennen Wissen gewonnen hat, aus Wissen Vorstellung und aus Vorstellung Taten. Es gibt eine simple Regel der Evolutionstheorie: Was sich bewährt, überlebt. Nun, frage ich, was hat denn überlebt? Ist es nicht der klare Verstand, der sich immer wieder Wege bahnt, wenn Vorstellungen zum Problem werden? Wenn wir den Raum unserer Erkenntnisse weiter fassen können, setzen wir Bekanntes in neues Licht, machen es vergleichbar und neu zuordenbar.
Die Allmacht der Aufklärung
Oft wird als Begründung des Atheismus ein wissenschaftliches Weltbild ins Treffen geführt, das in der Aufklärung fußt. Allerdings gibt es eine Vielzahl wichtiger Kritiker der Aufklärung, die meinen, sie schließe mehr Möglichkeiten aus als sie an Erkenntnissen gewinnen kann. Aufklärung wäre außerdem ein europäisches Konzept aus christlicher Tradition, welches nicht für andere Weltgegenden vorgesehen war. Beidem stimme ich zu. Sowohl Descartes, der unser modernes Denken in seinen Meditationen präzise formuliert hat, als auch Kant, dessen Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Möglichkeiten jeglicher Erkenntnis überhaupt untersucht, sind einem jeweils katholischen und protestantischen Weltbild verbunden. Wer die Texte aufmerksam liest, erkennt das auch unschwer; sie dachten ja auch nicht daran, ihren Hintergrund zu verschleiern. Descartes und Kant stehen damit am Podest einer neuen Zeit, die mit der Kopernikanischen Wende, den Galileischen Gleichungen und Macchiavellis Werken erste Monumente setzte.
Sie vollziehen jedoch einen gefährlichen Gestus nach, welcher der Sprache des Monotheismus innewohnt. Sprechen wir von den Eigenschaften des christlichen Gottes. Er ist allmächtig, allwissend, ewig und so weiter. Nichts anderes sagt die moderne Wissenschaft von sich. Selbstverständlich macht sie Zugeständnisse der Bescheidenheit und verweist auf ständige Entwicklung, Kritik und Zweifel. Dennoch strebt sie an, dass ihre Erkenntnisse universell sind – mithin überall und zu allen Zeiten gültig. Dass sie sich wundern muss, dass dies dann doch nicht der Fall sein kann, bringt uns hier nicht weiter. Die Wissenschaft erlebt in ihrem gesellschaftlichen und politischen Einfluss ihre Apotheose. Gerade noch verbreitete die Physik die Lehre vom höchsten Wesen, nun sind es Biologie und Informatik.
Dieser Text ist als Replique auf Volker Dittmars treffende Analyse gemeint. Doch Dittmar unterliegt den Beschränkungen, welche er aufheben will – und wahrscheinlich hat er dies mutig auf sich genommen. Dittmar sieht es richtig, dass Humanismus zumeist mit Religionskritik einher ging. So schreibt Georges Benoit in seiner Geschichte des Atheismus treffend, dass die humanistische Subversion sich in den Schreibstuben verbreitete, während auf den Schlachtfeldern die Religionskriege tobten. Als die Mächte ermattet waren, entschied man sich für Relgionsfreiheit und die Vorherrschaft des säkularen Urteils vor dem klerikalen. Der Weg stand nach dem Westfälischen Frieden offen für Aufklärung, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit. Wenigstens nördlich des Rheins. Während England längst einen eigenständigen Weg eingeschlagen hatte, entwickelte sich der Humanismus in Spanien, Frankreich, den Niederlanden und Italien teils auf Schleichwegen, teils auf Bühnen und teils über längere Gefängnisaufenthalte. Österreich entwickelte sich zum Beschützer kirchlicher Interessen und machte damit seine Geschichte an einem historischen Treibanker fest, der die Habsburgermonarchie rasch in den Abgrund riss. Die Reformen Maria Theresias und Josef II. dürfen nicht ohne ihre konkrete politisch-militärische Basis betrachtet werden.
Auch das war ein Aspekt der Aufklärung, dass die Schule dem Staat brave Untertanen bilden sollte, die für Kaiser, Gott und Vaterland ihre Pflicht erfüllten und ihr Leben gaben. Die florentinische Republik Macchiavellis war zum Kaiserreich Napoleons geworden und seiner Grande Armée, die Idee, dass nicht Söldner, sondern die Bürger selbst ihr Land verteidigen sollten, war Grundlage für den Nationalismus und seine Millionenheere.
Wem Blut und Boden zu primitiv waren, der ließ für die Freiheit Waffen schmieden, für den Weltfrieden. Ungeachtet fehlender Grundrechte, die in Europa später verwirklicht waren als in mancher südamerikanischen Republik. Wer anders als unterdrückte Völker konnten sich mit Ideen von Freiheit und Unabhängigkeit identifizieren? Wirtschaftliche und politische Hegemonie wollten sie ja gerade abschütteln.
Fassen wir zusammen: Wäre es dem Menschen nicht von Beginn seiner Existenz darum gegangen, seine Welt richtig zu verstehen, hätte er nicht überlebt. Religiosität und wissenschaftliche Weltsicht lassen sich nur schwer trennen. Ihre Regeln sollen den Alltag strukturieren und werden auf vergleichbare Weise vermittelt. Ob Pater Noster und Credo oder Lehrsatz von Pythagoras – zunächst wird aufgesagt, erst später vielleicht verstanden. Religion, wie wir sie verstehen, ist kulturabhängig. Damit hat die Religion in Europa ihre Konflikte mit der Entwicklung der Wissenschaft vorangetrieben. Forschung führte zu neuen Kulturtechnologien, die einer wachsenden Bevölkerung vermittelt werden mussten, um sie unter Kontrolle zu halten und Macht auszuüben. Indem die Kirche politische und religiöse Macht verband, konnte sie ihren Einfluss bewahren. Um an die Macht zu gelangen, bat sogar der Sozialismus um Audienzen.
Wissenschaft ist mühsam. Nicht nur ihre Lehren in der Schule zu erlernen, stellt vor Herausforderungen, die dazu zwingen sich ständig zu überwinden. Forschung selbst ist in intellektueller, finanzieller und sozialer Hinsicht herausfordernd. Wissenschaft ist nicht neutral. Sie steht im Wettbewerb mit anderen Mächten. Exzellenz wird gefordert. Nicht um des Wissens willen, sondern der Wettbewerbsfähigkeit wegen. Dafür gibt es von Gremien erarbeitete objektive Parameter. Meint jemand, diese wären politisch keimfrei? Ich möchte daran erinnern, dass es ein nationales Gremium von Experten war, welches Ludwig XVI. den Kopf gekostet hat. Nicht die Revolutionäre schlachteten Menschen ab, die Funktionäre taten brav ihre Pflicht. Ein Zug der Geschichte, der zu immer neuen Brutalitäten führte. Der Untertan war zur Macht gekommen, ohne sich beherrschen zu können.
Wie gut tut da nicht ein wenig Gnade der Religion! Es reicht schon aus, in die Kirche zu gehen und dem Pfarrer höfliche Worte zu sagen, um gut zu sein. Egal, ob Kinder arbeiten müssen, damit wir unser Geld verdienen, ob Familien delogiert werden oder Arbeitslose Selbstmord begehen. Unter der Woche glauben wir Statistiken, Experten, dem gesammelten Wissen notfalls von Wikipedia. Die Macht der Notwendigkeit verführt uns zu tun, was nicht unser Schaden sein soll. Mit Gottes Segen und der Unleugbarkeit der Wissenschaft lässt sich die Welt aus den Angeln heben.
Wissenschaft ohne Menschen?
Wer ist nun dazu aufgerufen zu reflektieren, was geschehen ist, geschieht und geschehen kann? Funktionäre? Priester, Wissenschafter und Forscherinnen? Sie werden wieder nur tun, was gerade mal so gut und richtig ist. In den Worten des amerikanischen Pazifisten und Vietnam-Veteranen Donald W.Duncan: “Was ich getan habe, war nicht gut. Ich habe es richtig gemacht. Aber es war nicht richtig es zu tun.” Die Struktur der Handlungsmöglichkeiten verlangt nach Erkenntnissen, welche an ihre Bedingungen gebunden sind.
Wir sehen Mächte, die uns vor Aufgaben stellen, welche wir nach bestem Wissen und Gewissen erfüllen. Können und Moral sind in Einklang. Nun ist es nicht das vorzügliche Merkmal der Aufklärung, dass der Mensch alles weiß. Kant sagt es in seiner Schrift Was ist Aufklärung?, dass es unsere Aufgabe wäre, uns von unserer selbst verschuldeten Unwissenheit zu befreien. Damit stellen sich der Geisteswelt ob intellektuell oder spirituell gefährliche Aufgaben; vergessen wir nicht, dass die Häretiker zunächst spirituelle Zweifel hatten bevor der Beweis an die Stelle des Glaubens trat.
Es ist nicht wichtig, ob wir Atheisten sind oder Tiefgläubige. Nun geht es doch um Ideen und Begriffe, die wir reduzieren wollen! Auf unser selbst verschuldetes Unwissen nämlich. Ist das denn nichts anderes als Aberglaube? Was ist denn nach dem oben Gesagten Wissenschaftlichkeit? Die tägliche Bemühung, die eigene Welt mit den besten Mitteln des Verstandes zu organisieren. Und wir sagen, dass die besten Mittel nicht in den Religionen zu finden sein werden. Selbst dann, wenn aus den Religionen wesentliche Beiträge zum Humanismus entstehen (weil doch auch gläubige Menschen fähig sind ihren Verstand zu benutzen) wie die Befreiungstheologie, die eine politische und engagierte Kirche will, deren Gläubige im Leben stehen und Stellung beziehen. Auch unter den Widrigkeiten von Unterdrückung, Intrige und Opportunismus sich dem Menschen selbst verpflichtet fühlen, nicht Institutionen und Interessen.
Für den einzelnen Menschen ist es zu viel verlangt, sich Wissen in dieser oder jener Hinsicht anzueignen, mit dem alles zu erklären wäre, wovon wir heute wissen. Die Option der Theologie verschwindet damit immer mehr. Es geht nicht darum, dass Atheisten böse auf Religionen wären. Das ist Sache jedes Einzelnen, wie man sich zu seiner Biographie verhält, das ist beileibe Privatsache. Wir sind, nochmal Aristoteles, politisch. Wesen, die gerne mit vielen sind, heißt das. Wir sind nicht auf uns alleine gestellt – es gibt etwas da draußen und dank der modernen Technik haben wir seine Telefonnummer oder können es zumindest googeln. Der Mensch ist menschlich, ist lieb und böse, ist sicher im Irrtum, ist verzagt oder übermütig. Der Mensch ist nicht objektiv, ist nicht vorherbestimmt, ist nicht Untertan. Der freie Mensch beherrscht sich selbst. Die Wissenschaftlichkeit ist die freie Art und Weise den Alltag zu organisieren, die Wissenschaften sind die Institutionen, welche Inhalt und Aussage dazu bereitstellen sollten. Sie drücken sich davor.
Wir brauchen wieder die Wissenschaft der Steinzeit. Wir brauchen das Bewusstsein, dass wir uns engagieren sollen und an unserer Welt aktiv teilnehmen. Die Religionen missionieren sich schon selbst zum Atheismus, unabhängig von der Konfession. Wir können Humanismus durchaus als Glaubensform ansehen, wem ist damit geschadet? Wir können Atheismus als einen seiner Inhalte betrachten. Humanisten müssen für die Autonomie ihres Gewissen aber doch nicht alles hinter sich lassen? Sie sind in Strukturen und Institutionen eingebunden, von denen sie auf immer vernetztere Art und Weise abhängen. Robert Pfaller schreibt in seinem Buch Die Illusion des Anderen “Vor allem die Frage, was ‘Aufklärung’ heißen könnte, was es also bedeutet, sich durch Einsicht von Einbildungen zu lösen, bekommt vor diesem Hintergrund (eines die Macht der Einbildung möglicherweise noch verstärkenden Wissens) eine neue, verstörende Brisanz.” (Pfaller, 2002, p.15). Die Wissenschaften haben im Zeichen des Guten, der Freiheit, des Kapitals oder eben des Guten, des Kommunismus, des Proletariats ihren Dienst getan. Sie haben alles richtig gemacht. Aber haben sie damit das Richtige getan?
Wissenschaften sind Institutionen, sie dienen der Macht, der Wirtschaft und dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Hier beginnt eine Mission in aufgeklärtem Verständnis. Im Sinne Pfallers die Lösung von Einbildung durch Einsicht, im Sinne Kants die Befreiung von Unwissen und eigener Schuld. Im Sinne Duncans das Ende der Unterdrückung anderer für eigene Vorstellungen ohne eigene Verantwortung. Die Physik erklärt Kosmos und Atom, sie hat nichts zu sagen, wenn sie gefragt wird, welchen Sinn das alles macht. Die Wissenschaften haben ein Weltbild vernichtet, das den Menschen in den Mittelpunkt des Universums gestellt hatte. Im Sinne seiner Verantwortung für seine Welt und zukünftige Generationen gehört der Mensch wieder in den Mittelpunkt. Wir brauchen Wissenschaften, die sich ihrer Verantwortung klar werden, wir brauchen humanistische Wissenschaften.
Zum Nachschlagen:
Elke Mader: Anthropologie der Mythen; facultas Wien 2008
Robert Pfaller: Die Illusion des Anderen; Suhrkamp Frankfurt/M 2002
Gustavo Gutiérrez: Die Theologie der Befreiung; Grünewald Mainz 1992
Enrique Dussel: Philosophie der Befreiung; Argument Verlag Hamburg 1989
Ken Alder: Engineering the Revolution; UCP Chikago 2010
Jürgen Hamel: Geschichte der Astronomie; Magnus Essen 2004
Walter Beltz: Gott und die Götter; Aufbau Verlag Berlin Weimar 1988
Rolf Peter Sieferle, Helga Breuninger Hg.: Kultur der Gewalt; Campus Frankfurt/M 1998
Josef Reichhold: Warum die Menschen sesshaft wurden; Fischer TB 2012